Ein Bericht von JEF NRW

 

Seit Jahrzehnten kommt es im Konflikt um Bergkarabach im Kaukasus immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Armenien und Aserbaidschan. In den letzten Wochen eskalierte der Konflikt: Seit Ende September hatte Krieg geherrscht, der nun unter Vermittlung Russlands und dem Einsatz russischer Friedenstruppen zur Sicherung der umkämpften Region vorläufig beigelegt wurde.

Völkerrechtlich gehören die Region Bergkarabach und die umliegenden Provinzen zu Aserbaidschan, wurden jedoch seit 1994 von Armenien besetzt. Die auf diesem Gebiet ausgerufene Republik Arzach ist international nicht anerkannt. Das nun vermittelte Friedensabkommen ist ein Rückschlag für Armenien: Es muss viele besetzte Gebiete an Aserbaidschan abtreten und ist mit dem verbliebenen Gebiet um die regionale Hauptstadt Stepanakert nur über eine von russischen Soldaten gesicherte Straße, den sogenannten Latschin-Korridor, verbunden.

 

JEF fordert EU zum Handeln auf

Der Konflikt war und ist in der europäischen und internationalen Öffentlichkeit kaum präsent, obwohl Angriffe auf Zivilist*innen und zivile Einrichtungen täglich gemeldet wurden. JEF Europe und JEF Germany haben daher einen offenen Brief an europäische Politiker*innen verfasst, in dem diese dazu aufgerufen wurden, sich stärker für die Konfliktbeilegung einzusetzen und die einseitige Konflikteinmischung der Türkei auf Seiten Aserbaidschans zu verurteilen.

 

Der Konflikt prägt Generationen auf beiden Seiten – Perspektiven von Betroffenen

Parallel dazu wurden von JEF NRW und JEF Bayern im Rahmen einer Kampagne zum Konflikt Interviews mit Menschen aus Armenien, Aserbaidschan und Berg-Karabach geführt, um den betroffenen Menschen eine Stimme zu geben.

So berichtete Flora (21), die aus Stepanakert stammt, von ihrer Flucht nach Armenien, der zusätzlichen Belastung durch die Covid-19-Pandemie, der Schwierigkeit, den Alltag im Krieg zu bewältigen sowie Freunden, die an der Front vermisst werden. Veronika (24), die nahe der Hauptstadt von Armenien, Jerewan, lebt, erzählte von der Sorge, dass sich der Krieg auch auf das Staatsgebiet von Armenien verschieben könnte, sowie von ihrem Engagement für Geflüchtete aus der umkämpften Region und der Herausforderung, dass der Konflikt zunehmend Teil des Alltags werde. Rafael (63), in Jerewan lebend, glaubt, dass der Krieg sowohl auf aserbaidschanischer als auch auf armenischer Seite nicht von der Bevölkerung gewollt ist. Der Krieg sei auch in Jerewan durch die vielen Verwundeten und ständig eintreffenden Holzsärge sehr präsent gewesen. Rufat (27), der in Baku in Aserbaidschan aufgewachsen ist und derzeit in Hamburg lebt, erinnert daran, dass dieser Konflikt schon viel zu lange andauern und historisch aufgeladen sei. Alle seien Verlierer*innen des aktuellen Krieges. Alle Interviewten wünschten sich eine friedliche Konfliktlösung, auch wenn diese unterschiedlich ausgestaltet sein soll: Die pro-armenischen Interviewpartner*innen finden, dass sich die Menschen in der Türkei und Aserbaidschan gegen ihre Regierungen positionieren sollten und die EU, die USA und Russland das Verhalten der Türkei und Aserbaidschans sanktionieren müssten. Auf der anderen Seite hofft Rufat als Aserbaidschaner, dass Armenien, Aserbaidschan sowie Georgien endlich erkennen, dass sie gemeinsame wirtschaftliche Interessen als Bindeglied zwischen Ost und West teilen. Eine entsprechende Wirtschaftspolitik, die von der EU gefördert werde, könne so zur Konfliktbeilegung beitragen.

 

Zukünftiges Zusammenleben gestalten – aber wie? Diskussionsbeiträge von Expert*innen

Den Abschluss der Kampagne bildete im Rahmen der Discuss Europe-Reihe ein digitales Expert*innengespräch mit Alexander Iskandaryan (Direktor des Caucasus Institute, Jerewan), Ahmad Alili (Caucasus Policy Analysis Center, Baku) und Silvia Stöber (Freie Journalistin).

 

Eine Region muss wieder zusammenwachsen

Im Zentrum der Debatte mit rund 70 Teilnehmer*innen aus ganz Europa standen die Möglichkeiten einer friedlichen Konfliktlösung. Dabei waren sich die Teilnehmer*innen einig, dass die aktuelle Konfliktbeilegung keine langfristige Lösung sei. Laut Alexander Iskandaryan habe Armenien dem Abkommen zugestimmt, um die aktuellen Kriegshandlungen und die humanitäre Krise zu beenden. Mehreren unabhängigen Berichten zufolge ist die Zustimmung Armeniens allerdings auch in der deutlichen militärischen Unterlegenheit gegenüber Aserbaidschan begründet. Um den Konflikt langfristig beizulegen muss, so führt Alexander Iskandaryan weiter aus, das Mindset der Bevölkerung geändert werden, um der Polarisierung entgegenzuwirken. Dies gelinge nicht über das Ziehen von Grenzen, sondern durch die Förderung des Zusammenlebens der diversen ethnischen Gruppen in der Region: “Nagorno-Karabakh is not only about the land, it is also about the people.”

Auch Aserbaidschan möchte Konzepte des Zusammenlebens fördern, betont Ahmad Alili. Aserbaidschan wolle die Armenier*innen in den nun von Aserbaidschan kontrollierten Gebieten nicht marginalisieren und werde daher das Gespräch zur Bevölkerung suchen. Er erklärt, dass Aserbaidschan den Krieg als einzige Möglichkeit gesehen habe, völkerrechtlich bestätigtes Recht gegenüber Armenien einzufordern, das jahrzehntelang missachtet worden sei.

 

Wer nimmt Einfluss

Es ist deutlich zu erkennen, dass der Konflikt historisch aufgeladen ist, die Ursachen weit in die Vergangenheit zurückreichen und von beiden Seiten unterschiedlich interpretiert würden, so Silvia Stöber. Dass die für die Region zuständige OSCE Minsk-Gruppe kaum zur Konfliktbeilegung beigetragen hat, sehen die Expert*innen mit dem derzeitigen Fokus der Länder als auch der EU auf die Covid-Pandemie begründet. Die USA sei zudem mit der Präsidentschaftswahl beschäftigt, auch gebe es innerhalb der OSCE derzeit eine Führungskrise. Einig waren sich die Expert*innen aus Armenien sowie Aserbaidschan zudem in der Unzufriedenheit mit der Rolle, die Russland nun im Konflikt einnimmt: Demnach verfolgt Russland vor allem geopolitische Interessen, ist das Land nun durch die sogenannten Friedenstruppen in der Region präsent.

Um tatsächlich zur Konfliktbeilegung beizutragen und Einfluss zu nehmen müsse die EU laut Silvia Stöber eine Sprache erlernen, die von Russland als auch von der ebenfalls präsenten Türkei verstanden wird. Dies gelte aus EU-Perspektive auch für die weiteren geopolitischen Konflikte, beispielsweise in Libyen oder Syrien. Im Konflikt um Bergkarabach muss die EU ihre Soft Power im Hinblick auf Bildung, Rationalisierung des Konflikts und Austauschangebote somit stärker einbringen.

 

Eine friedliche Konfliktlösung

Einen interessanten Gedankenanstoß setzen die Teilnehmer*innen der Diskussion, als sie Schweden auf die Agenda setzten. Das skandinavische Land wird die OSCE-Minsk-Group ab 2021 leiten und ist als neutraler Vermittler auf armenischer und aserbaidschanischer Seite anerkannt. Bevor jedoch der völkerrechtliche Status von Berg-Karabach endgültig geklärt werden könne, brauche es ein gemeinsames Narrativ. Nur so könne der Polarisierung begegnet werden, auch wenn sich dies in der Praxis schwer umsetzen lasse. Dann könnte am Ende des Konflikts auch ein von allen Seiten akzeptiertes Referendum über die Unabhängigkeit Berg-Karabachs stehen, so Alexander Iskandaryan.

Das Expert*innengespräch sowie die Interviews mit den Menschen aus der Region verdeutlichen: Eine von allen Seiten akzeptierte Lösung benötigt ihre Zeit. Die EU kann ihren Einfluss durch Soft Power stärken und – so konstatierten die Expert*innen – als Kontinent mit einer ebenfalls bewegten Geschichte als Vorbild für eine friedliche Konfliktlösung fungieren.

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